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Land Grabbing im Brotkorb Europas

August 29, 2014
Source
Neues Deutschland

Wissenschaftler warnen vor weiteren Strukturanpassungsmaßnehmen nach Kreditfreigaben

Während die internationale Öffentlichkeit sich auf die politische Krise in der Ukraine fokussiert, treibt die dortige Regierung eine Reihe von Reformen voran. Aktivisten sind alarmiert.

Jahrelang hatte der abgesetzte Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, mit der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) um Kreditbeihilfen von insgesamt 17 Milliarden US-Dollar gerangelt. Zuletzt jedoch bescheinigte der scheidende Direktor der Europa-Abteilung beim IWF, Reza Moghadam, dass ihn die «Entschlossenheit der Behörden, der Sinn für Verantwortung und der Reformwille positiv beeindruckt» habe. Das war noch vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Boris Poroschenko im Juni diesen Jahres.

Nach der Billigung der Kredithilfen durch den IWF folgte die Weltbank am 22. Mai mit einer 3,5-Milliarden-Dollar-Zusage. Nach Aussagen des Weltbankpräsidenten Jim Yong Kim war sie an die Bedingung geknüpft worden, dass die Regierung, die den Wettbewerb hinderliche Restriktionen aufhebt und ihren Einfluss auf die Wirtschaftsaktivitäten beschneidet. Experten befürchten jedoch, dass das schnelle Umschwenken der Ukraine auf den neoliberalen Kurs des Westens für den riesigen Agrarsektor in einer Katastrophe münden könnte.

Die Ukraine ist der drittgrößte Mais- und fünftgrößte Weizenexporteur der Welt. Die Landwirtschaft trägt zu zehn Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes bei. Nach einer Einschätzung der US-Agrarbehörde für das Jahr 2013, in dem die Ukraine mehr als 30 Millionen Tonnen Getreide exportierte, könnte das osteuropäische Land zum zweitgrößten Getreideexporteur der Welt nach den USA aufrücken. Dem «Centre for Eastern Studies» zufolge haben die Agrarexporte zwischen 2005 und 2012 dramatisch zugenommen: von 4,3 Milliarden auf 17,9 Milliarden Dollar.

Gleichzeitig hat der ukrainische Agrarsektor im vergangenen Jahrzehnt einen radikalen Wandel durchlebt, der ausländische Investoren und die Agroindustrie ins Land geholt hat.

Wie aus einem am 28. Juli veröffentlichten Bericht des US-ansässigen Oakland-Institute hervorgeht, wurden seit 2002 1,6 Millionen Hektar Land an multinationale Unternehmen überschrieben. Davon gingen mehr als 405 000 Hektar an ein Unternehmen mit Sitz in Luxemburg, weitere 444 800 an einen in Zypern registrierten Investor, 120 000 an ein französisches Unternehmen und 250 000 Hektar an eine russische Firma.

Ein bereits vor dem Ausbruch der politischen Krise zwischen China und Janukowitsch ausgehandeltes Abkommen hatte Peking die Kontrolle über drei Millionen Hektar besten Farmlands im Osten überlassen. Das Gebiet entspricht in etwa der Größe Belgiens und fünf Prozent der landwirtschaftlich Fläche der Ukraine.

Der Umschwung in der Ukraine war für die Investoren und Konzerne ein Segen, wie Michael Cox, Forschungsleiter der Investmentbank Piper Jaffray erläutert. Die Ukraine sei einer der vielversprechendsten Wachstumsmärkte für Agrarmaschinenhersteller und Saatgutproduzenten.

Derartige Äußerungen lassen bei Wissenschaftlern und Aktivisten die Alarmglocken schrillen. So erklärte die Geschäftsführerin des Oakland Institute, Anuradha Mital: «Internationale Finanzorganisationen zwingen die Ukraine zu Strukturanpassungsprogrammen, von denen wir aus den Erfahrungen wissen, dass sie zweifellos zu ernsten Sparmaßnahmen führen werden, die den Menschen schaden und die Armut vergrößern.»

Die Ukraine sei zudem eines von zehn Pilotländern des neuen Weltbank-Projekts «Benchmarking the Business of Agriculture» (BBA), so Mittal. Diese Initiative soll die Landwirtschaft in einzelnen Ländern analysieren, um herauszufinden, wie gut die jeweilige Agrarwirtschaft für großflächige, kommerzielle Investitionen geeignet ist. «Damit Kleinbauern produktiver und wettbewerbsfähiger werden», begründet die Weltbank die Initiative.

Das Projekt wird von zahlreichen Organisationen wie etwa dem Internationalen Gewerkschaftsverband ITUC heftig kritisiert. Umstritten ist das BBA vor allem deshalb, weil durch ihn transnationale Konzerne steuerlich begünstigt und arbeitsrechtliche Standards in Entwicklungsländern aufgeweicht werden, um angeblich Auslandskapital anzuziehen. Auch Frédéric Mousseau, der Ko-Autor des neuen Berichts des Oakland-Institute, fürchtet, dass von Initiativen wie dem BBA in erster Linie ausländisches Kapital profitieren wird, dem die sozialistische Tradition den Zutritt zu ukrainischen Böden verwehrt hatte. «Auf dem Papier nehmen sich diese Reformen gut aus, doch wenn wir näher hinschauen, zeigt sich, dass davon vor allem große multinationale Konzerne und weniger die Kleinbauern profitieren», erläutert er. «Solche Ranking-Systeme wie das BBA sorgen vor allem dafür, dass Bauern am Ende für Konzerne arbeiten müssen, anstatt den Eigenanbau zu betreiben.»

Mousseau weist zudem darauf hin, dass Arrangements wie das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine einen Blick auf die landwirtschaftliche Zukunft ermöglichen, wenn diese von Konzerninteressen gelenkt wird. «Bisher konnte die Ukraine den Einsatz von genmanipulierten Organismen im Agrarsektor verhindern. In dem Abkommen werde unter Artikel 404 jedoch festgelegt, dass beide Seiten übereingekommen sind, den Einsatz von Biotechnologien auszuweiten. IPS/nd